Was erwartet die Trainierenden?
Zu Beginn eines traditionellen Wing Chun Trainings, ob in China oder Saarbrücken, lernt jeder Wing Chun Anfänger die erste Form, die sich Siu Lim Tau (kleine Idee) nennt. Diese erste Form, die Siu Lim Tau, ist die Grundlage oder das Fundament, auf dem man sein Wing Chun aufbaut.
Alle Formen im Wing Chun bestehen aus einem festgelegten Ablauf von Bewegungen. Beim Lernen und Üben der einzelnen Abschnitte und Bewegungen einer Form werden diese vom Trainer erläutert. Beginnt man eine Form zu lernen, wird man am Anfang erst einmal versuchen, sie auswendig zu können, um sie auch später jederzeit und ohne Hilfe alleine üben zu können. Die Wing Chun-Formen helfen dem Trainierenden, sich an Bewegungsabläufe und Positionen zu gewöhnen. Die erste Form bildet die Grundlage für alle darauffolgenden Trainingseinheiten, da alle wichtigen Bewegungen durch die Form erfahren werden.
Die erste Form, die Siu Lim Tau, kann und sollte natürlich auch zu Hause trainiert werden. Da die Bewegungen der Siu Lim Tau kaum Platz benötigen, geht das auch in engeren Räumen.
Mit der Siu Lim Tau übt der Schüler einen stabilen und geraden Stand ( Yeejee Kimyeung Ma ), das Gleichgewicht zu halten und die Koordination der Arme und Hände mit ihren Muskeln und Sehnen. Tritt-Techniken sind in dieser Form nicht vorhanden.
Wenn der Schüler den Ablauf der Form auswendig kann, wird man als Nächstes versuchen, die einzelnen Bewegungen in der Form zu verfeinern, d. h. noch mehr auf die korrekten Positionen und den korrekten Einsatz der daran beteiligten Muskeln zu achten. Wichtig in dieser Phase ist es, locker und ohne Verkrampfung zu üben. Viele Schüler werden sicher eine neue Bewegungsmethodik lernen; weg von Härte und Verspannung.
Beim Üben der Formen werden viele Details ausgearbeitet, die fest in den Wing Chun-Prinzipien verankert sind. Es ist auch nichts Ungewöhnliches dabei, wenn selbst nach langem Training der Siu Lim Tau noch Aha-Erlebnisse vorkommen. Durch das genaue Ausführen, Beobachten und Verinnerlichen der Form wird der Schüler jedes Mal wieder auf Teilstücke der Siu Lim Tau stoßen, durch die er der Idee jeder Bewegung näherkommt. Parallel zum Trainig der ersten Form wird mit anderen Standardübungen begonnen. Das kann z.B. das Üben eines richtigen Fauststoßes sein. Der Fauststoß ist sicher die wichtigste Waffe im Kampf. Das Lernen der richtigen Position der Finger, des Daumens, aber auch ein stabiles Handgelenk sind für einen stabilen Fauststoß unumgänglich. Weiterhin können einzelne Bewegungen wie z.B. Tansau, Paksau oder mit der Zeit das Üben von Schritten (z.B Toi Ma = Rückwärts-Schritt und Tor Ma = Vorwärts-Schritt), sowie das Wenden ( und der gewendete Stand "Pien San Ma" oder Yui Ma [jii maa] ) folgen. Eine wichtige Übung im Wing Chun mit Wendung ist das Saat Sun Choi (oder auch Sa San Choi / Choy bzw Pien San Kuen -> 摋身捶). Dabei wird gleichzeitig ein Fauststoß ausgeführt. 身 Sa bedeutet dabei Körper. Diese Übung gibt es in 2 Varianten. Einmal wird der Schlag unter den anderen, einmal über dem anderen Arm ausgeführt. 捶 ( ceoi ) ist dabei ein Fauststoß auf Kantonesisch. Saat (摋) bedeutet seitlicher Fauststoß.
Ein Gegner, der sich flink bewegt, ist schwerer zu treffen als einer der wie angewurzelt dasteht oder sich nur im Schneckentempo dahinschleicht. Ein Wing Chun Schüler muss lernen, sich schnell bewegen zu können, Distanzen zu überwinden und genauso schnell wieder zurückweichen zu können.
So wird der Schüler im Laufe der Zeit, außer dem Üben und Verbessern der Form, die Bewegungen und Techniken der Form einzeln trainieren. Das Einzeltraining von Tansau, Bongsau, Wusau etc sollte auch ein fester Bestandteil des persönlichen Trainings sein. Wenn der Schüler in der Ausführung der Einzeltechniken eine Grundsicherheit gewonnen hat, werden die Einzeltechniken kombiniert ausgeführt. Tansau-Fauststoß, Paksau-Fauststoß um nur zwei Kombinationen zu nennen. Oder sogar Armtechniken und Schritttechniken kombiniert.
Nun kommen langsam die ersten praktischen Übungen mit Trainingspartner hinzu. Die ersten können z.B. das gemeinsame Paksau-Fauststoß-, und Tansau-Fauststoßüben sein ( Ein Trainingsparter greift wie abgesprochen an, der andere wehrt sich z.B mit Tansau-Fauststoß).
Hierbei ist es nicht wichtig, besonders schnell zu trainieren, sondern entspannt und mit Konzentration bei der Sache zu sein. Der Schüler sollte versuchen, seine Bewegungen genau auszuführen und dabei spüren, wie der eigene Körper, aber auch der Körper des Partners, reagiert. Wenn die Armtechniken in der Bewegung , d.h mit Schritt und Wendung, geübt werden, sollte der Schüler noch mehr auf die Koordination des Körpers achten.
Hierbei lernt der Schüler, sich richtig zu bewegen und ein gutes Distanzgefühl zu entwickeln , sowie Stabilität in der Körperstruktur während der Bewegung zu behalten.
Der nächte Schritt im Wing Chun-Training sind die Standardpartnerübungen. Man könnte sie als Partnerformen bezeichnen, da der zeitliche Ablauf noch festgelegt ist. Die erste Standartpartnerübung ist Chi Dan Sau. Dan Chisau oder Chi Dansau scheint eine recht einfache Übung zu sein, sollte aber regelmäßig geübt werden. Die nächste Partnerübung ist Lapsau (oder Lap Sao).
Ist der Schüler in seinen Bewegungen sicher, kommen zu dem Training von Lapsau und Dan Chisao, sowie anderer Übungen mit Trainingspartner das wichtige einarmige Chisau (oder Chi Sao) und etwas später das zweiarmige Chisau dazu. Das Chisau ist eine sehr wichtige Wing Chun Übung. Man könnte fast sagen, dass man ohne ein gutes Chisau kein gutes Wing Chun beherrscht. Diese Übung ist hervorragend geeignet die Sensitivität und das Geschick eines Schülers zu verbessern. Weiter werden Technik , Position und das Gefühl des Schülers trainiert. Mit dieser Übung können zwei Schüler ihr Kampfgeschick trainieren, ohne sich zu verletzen. Darüber hinaus kann man auch mit Gosau oder Go Sao (講手〔讲-〕 gong2 sau2) beginnen. Gosao ist freieres Partnertraining, also Sparring. Ganz frei von Regeln ist Gosao aber auch nicht. Ziel ist es nicht den Partner zu verletzten sondern, bei Anfängern erstmals mit abgesprochenen Angriffen und Kontern, die gelernten Bewegungen einzusetzen. Bei erfahrenen Schüler kann das unglaublich schnell und dynamisch aussehen. Der Übergang zum komplett freien Sparring ist fließend.
Auch wenn im Laufe der Zeit zu der ersten Form noch die zweite Form Chum Kiu und später gar die dritte Form, die Biu Jee, dazukommen, wird einen das Chi Sao beim Wing Chun Training ständig begleiten.
Aus dem Angebot der Einzelbewegungen des Wing Chun wird der Trainer Partnerübungen zusammenstellen - erfahrenere Schüler können dies aber auch. Da ein Angreifer auf der Strasse nicht unbedingt selber Wing Chun macht, ist es wichtig, theoretisch mögliche Angriffe im Training durchzugehen und mögliche Reaktionen zu trainieren. Daher gehört es auch zum Training, dass man lernt, wie man z.B einen Schwinger oder hohe Tritte an den Kopf abwehrt. Angriffsszenarien werden nachgespielt und Techniken zur Selbstverteidigung geübt.
Das Kampfsporttraining ähnelt dem Lernen des Schreibens. Erst lernt man in der Schule, einzelne Buchstaben schön zu schreiben. Man achtet auf Ober- und Unterlängen und eine saubere Punktsetzung etc. Dann fängt man mit einfachen Sätzen an und irgendwann ist man bei komplexeren Texten. Eine Inhaltsangabe, eine literarische Erörterung oder sogar eine Doktorarbeit sind später möglich. Sicher schadet es nicht, wenn man immer wieder Fauststöße, Paksao, Tansao und andere Bewegungen übt. Einfache Sätze sind dann die Basispartnerübungen des Wing Chun: Dan-Chi, Lap-Sao und Chisao. Diese werden dann zu komplexeren Texten, indem man Bewegungen des Wing Chun frei kombiniert, und erreichen den Höhepunkt, wenn man in der Lage ist, zu einem Thema (einem Angriff) passend zu reagieren und sich zu verteidigen. Die Basispartnerübungen sind weit weg von Selbstverteidigung. So wie Diktate und das Schreiben von einfachen Sätzen weit weg sind vom freien Schreiben.
Ziel des Trainings wird es sein, den Schüler dazu zu befähigen, intuitiv auf einen Angriff zu reagieren. Das bedeutet, dass der Schüler lernt, die Technik als Reaktion auf einen Angriff auszuwählen, die ihm in dieser Situation als am Besten geeignet erscheint. Hierzu muss der Schüler ein Verständnis für die Wing Chun Prinzipien entwickeln und diese auch umsetzen können. Wer nur im Schönschreiben von Buchstaben und einfachen Sätzen verweilt, wird diesem Ziel nicht näher kommen. Auch wenn es ein sehr fleißiger Schüler ist und dieser jahrelang und viele Stunden in der Woche trainiert. Um den Übergang vom Buchstaben und Sätzeschreiben zum freien Schreiben zu gestalten, bedarf es eines guten Trainers. Er muss in der Lage sein, den Schüler mittels passender Trainingskonzepte zum freien Schreiben zu bringen.
Wenn der Trainer es für richtig hält, kommt zum Training noch das Training an der Holzpuppe dazu. Dann das Training mit dem Langstock und oft zuguterletzt das Training mit dem Doppelmesser. Krafttraining, Fitness-Training und richtiges Dehnen schaden auch nicht. Man könnte z.B als Vorbereitung für den Langstock am Ende des Trainings ein paar Minuten Jin Ma (Square Horse Stance) und danach ein paar Bahnen Jin Tsui (Jin Choi oder Gong Bu) üben. Diese von vielen "Battle Step","Battle Punch" oder "Arrow Punch" genannte Übung gab es schon bei den Shaolin und wird ähnlich auch im Wing Chun geübt. Je nach Wing Chun Verband schon früh oder in anderen erst nach Jahren, wenn man mit dem Langstock anfängt. Dabei kombiniert man Seit-Schritte im Mabo mit Fauststößen. Man findet dabei viele Varianten im www (Youtube: Shaolin Style , Wing Chun Style [die Dame ist wohl Schülerin von Danny Xuan der sich u.a. auf Moy Yat stützt. Moy Yat schrieb gute Bücher mit Texten zu Langstock und Erläuterungen zum Jin Choi]). Das Langstocktraining trägt maßgeblich dazu bei, ein besseres Verständnis für die Kraftentwicklung in den Techniken des Wing Chun zu erlangen. Lok Keng Kwong (Sohn von Lok Yiu) beschreibt dies treffend im Magazin Insider (Ausgabe 4, Seite 2): "Ich interessierte mich am meisten dafür, wie man die Kraft für die Wing-Chun-Techniken entwickeln konnte; deshalb trainierte ich intensiv mit dem Langstock".
In guten Schulen lernt man nicht nur die praktischen Anwendungen, sondern auch die zugrunde liegenden theoretischen Konzepte, wie etwa das Prinzip „Garb Lik“, was so viel wie „kombinierte Stärke“ bedeutet. Ebenso wichtig ist es, dass die Schüler die Wing-Chun-Prinzipien verstehen und lernen, wie sie diese effektiv in der Praxis umsetzen können.
Zeitaufwand
Der Zeitaufwand, um das komplette System zu lernen, hängt sicher von jedem Einzelnen ab. Disziplin und auch Talent spielen eine Rolle. Sicher hängt es auch davon ab, in welchem Verband bzw. Verein man Wing Chun lernt und wie traditionell und streng der Lehrweg ist und ob es ein sauberes Trainingskonzept gibt, und ob man viel Zeit in das Üben oder wenig oder gar keine Zeit in das Trainieren steckt. Vergleiche mit anderen Systemen helfen da vielleicht auch nur wenig. Yip Man lernte das komplette System wohl in 13 Jahren. Meister Lok Yiu konnte ab 1950 bis 1972 (Tod seines Sifu Yip Mans) Wing Chun lernen. Also lernte er bei seinem Sifu theoretisch 22 Jahre.
Die Zeit bis zum Einstieg in die Holzpuppenform und weiteren Formen zieht sich oft lang, da es im traditionellen Wing Chun erforderlich ist, die ersten drei Formen sehr gut zu können, ehe man mit der Holzpuppenform beginnt. Ich selbst mache nun schon seit 1996 Wing Chun nach Meister Lok Yiu und trainiere oft mehr als 6 Stunden in der Woche. Mit der Holzpuppenform habe ich noch nicht angefangen. Mit normalem Trainingsaufwand (4-6h pro Woche) sind also 25 Jahre für die ersten 3 Formen eher die Regel.
Das traditionelle Training im Wing Chun besteht somit aus verschiedenen Teilen. Diese sind:
- 6 Formen (fest vorgegebener Bewegungsablauf),
- das Exercise (z.B Siu Lim Tau Exercise übt alle Bewegungen der 1ten Form einzeln. z.B Tansau-Fauststoß, Paksau-Fauststoß etc.)
- Die 3 "festen" Partnerübungen Dan Chisau (oder Chi-Dan-Sau genannt), Lapsau und Chisau und
- freie Partnerübungen (Übungen mit dem Partner, die der Sifu vorgeschlagen hat. Dies können z.B nachgestellte Angriffe wie auf der Straße sein, aber auch freies Chisau. Freie Angriffe und Sparring kann man auch dazuzählen).
Man könnte auch nennen:
- Fauststoß
- Handballentechniken
- Armtechniken - Ellenbogen / Unterarm usw
- Beintechniken - Schritte, Abwehr und Tritttechniken
- Später dann: Waffentechniken Stock und Doppelmesser
- Situationstraining (Rollenspiele)
- Konditionsaufbau, Fitness (fast wie im Fitnessstudio)
- Dehnen, locker machen
- Funktionale Kraft (Gung), Krafteinsatz usw
- Timing
- Gefühl (Körpergefühl, Distanzgefühl usw) !
Neben dem normalen Gruppentraining sind Kleingruppentraining und Privatstunden sicher eine gute Möglichkeit im Wing Chun weiter zu kommen. Dazu sagt Felix Stöckle aus Freiburg im Insider 1997 Heft 3 S43: "Im Privatunterricht aber treffen nur Leute zusammen, die bereit sind wirklich etwas zu lernen". Recht hat er. Wing Chun wird in Sportschuhen oder in einfachen Kung Fu Schuhen trainiert. Spezielle Anzüge sind für das Training nicht nötig. Trainiert wird Indoor und Outdoor.
Ein guter Wing Chun Schüler wird zu dem praktischen Teil weiterhin Interesse für die Wing Chun Geschichte und der Entstehungsgeschichte der Kampfkunst im Allgemeinen zeigen. Vielleicht zeigt er auch Interesse an der chinesischen Kultur und schaut über den Tellerrand seines Wing Chun Systems. Gut ist so ein Interesse aber für alle Kampfkünste und Stile zur Selbstverteidigung, ob nun Wing Chun /Tsun , Hung Gar, Karate etc.
Die Trainierenden erwartet also ein recht gutes Trainingssystem. Allerdings sind im traditionellen Trainingssystem Situationstraining und Empowerment nicht bekannt. Beim Situationstraining spielt man Szenen aus dem realen Leben nach, um mögliche Reaktionen darauf zu üben. Empowerment beinhaltet u. a. Themen wie: Konfrontationsfähigkeit, Blickkontakt, Haltung, Kommunikation und Reflexion der körperlichen und mentalen Grenzen. Wer diese Aspekte im Training miteinbeziehen möchte, sollte sich mit diesen Wünschen direkt an den Trainer wenden.
Kampfsporttraining kann sich positiv auf Deine Gesundheit und Deinen Geist auswirken. Und vor allem: es macht viel Spaß!
Übst du noch oder trainierst du schon?
In der Sportwissenschaft unterscheiden wir zwischen Üben und Trainieren. Oft steht man stundenlang und übt Lapsao, Dan Chi Sao oder Chisao, macht Einzeltraining oder Go Sao. Doch alle diese Dinge fallen unter den Aspekt "Üben". Dabei ist Training "die planmäßige und systematische Realisation von Maßnahmen (Trainingsinhalte und Trainingsmethoden) zur nachhaltigen Erreichung von Zielen (Trainingsziele) "(Hohmann, Lames & Letzelter, 2010, S.15). Wenn man sich also Ziele setzt und auch überprüft, ob diese Ziele erreicht werden, dann trainiert man. Ein einfaches Beispiel wäre die Schlagkraftmessung. Dabei wird die Kraft deines Fauststoßes gemessen. Ein Ziel könnte zb sein, dass deine Schlagkraft (in kg) bei 5 Fauststößen hintereinder bei mindestens 3 Stößen über 120 kg liegt. Daraus folgt:
1. Trainingsplanung -> 2. Durchführung -> 3. Kontrolle -> 4. Auswertung -> zurück zu 1.